Jüdisches Leben in Lockenhaus

von Mag. Denise Steiger

In der Geschichte des burgenländisch-westungarischen Raumes bildet die jüdische Geschichte und Kultur einen wichtigen Bestandteil. Im speziellen spielte die Herrschaftsgeschichte in diesem Raum eine wesentliche Rolle für die Entwicklung der jüdischen Kultur, da Juden durch die Jahrhunderte immer wieder Schutz vor allem in den Herrschaften der Familie Esterházy im Nord- und Mittelburgenland und der Familie Batthyány im Südburgenland fanden. Die Gründung der „Sieben (heiligen) jüdischen Gemeinden“ in Deutschkreutz, Eisenstadt, Frauenkirchen, Kittsee, Kobersdorf, Lackenbach und Mattersburg erfolgte nach der Ausweisung der Juden aus Wien im Jahr 1670/71. Sie entwickelten sich zu bedeutenden jüdisch-orthodoxen Gemeinden Europas. Im Süden des Burgenlandes entstanden jüdische Gemeinden in Schlaining, Rechnitz und Güssing.

Erst nach 1860 erhielten Juden und Jüdinnen die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung und konnten sich von da an auch außerhalb dieser „Schutzjudengemeinden“ ansiedeln und Grund erwerben. In der ersten Zeit siedelten jüdische Familien in sehr viele Orte des Burgenlandes. Die Zahl der Orte mit jüdischen Bewohnern nahm später zwar wieder ab, dennoch lebten jüdische Familien bis 1938 in sehr vielen burgenländischen Orten.

Lockenhaus
Lockenhaus um 1950, das Gebäude mit den hohen Rundfenstern, rechts mittig, ist das ehemalige jüdische Bethaus

Lockenhaus

Der Diözesan-Schematismus aus dem Jahre 1802 erwähnte 5 Juden in Lockenhaus (etwa eine Familie), danach scheinen bis ca. 1840 keine Juden in Lockenhaus gelebt zu haben. Etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts ließen sich Maier Stössel und Johann Hoffmann aus Lackenbach und Jakob Leitner aus Schlaining, im Jahre 1851 Salomon Kopfstein aus Lackenbach in Lockenhaus nieder. Der Vater von Salomon Kopfstein, Simon, war seit 1819 als Schutzjude der Esterhazy-Herrschaft in Lackenbach anerkannt. Der Sohn Salomon wurde infolge eines Zertifikats der Gemeinde Lackenbach und Begutachtung des Ödenburger Bezirkskommissariates 1851 in Lockenhaus aufgenommen und eröffnete ein Gemischtwarengeschäft. Dieses befand sich zunächst im Haus Klostergasse 8. Auch Kopfsteins Brüder Abraham und Isak wohnten zunächst ebenfalls in Lockenhaus, später übersiedelte Abraham nach Unterrabnitz, Isak Kopfstein ging nach Pilgersdorf. Salomon Kopfstein tauschte sein Haus 1880 gegen das des Bäckers Josef Moser (Hauptstraße 12) und eröffnete hier ebenfalls ein Gemischtwarengeschäft. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn Maurus Geschäft und Haus. Maurus (Moritz) Kopfstein verkaufte das Haus im Jahre 1910 dem Bäckermeister Alois Martin, nach dessen Tod übernahm es sein Sohn Franz Martin. Die Familie Kopfstein übersiedelte von Lockenhaus nach Nagy Tapolczany und später dann nach Györ in Ungarn. Das Haus Hauptstr. 12 gehört heute der Familie des verstorbenen Altbürgermeisters Horvath.

Jakob Leitner erwarb den Platz des früheren Feuerteiches, der ausgetrocknet war und sumpfiges Gelände zurückgelassen hatte. Auf diesem Platz in der Hauptstraße 14 erbaute Leitner ein Wohnhaus, das auch ein großes Geschäft für Gemischtwaren, Eisen, usw. beherbergte. Das Haus war ebenerdig und Leitner zahlte der Herrschaft jährlich 10 Gulden Wasserzins. Im Jahre 1883 trat die Familie Leitner zum katholischen Glauben über, das Geschäft erfreute sich ab dieser Zeit besonders regen Zuspruchs. Der Sohn Wilhelm Leitner war kein guter Kaufmann. Er musste das Haus 1930 an den Holzwarenfabrikanten Johann Braun verkaufen, der an Stelle des alten, ein völlig neues, einstöckiges Gebäude errichten ließ. Das Haus Hauptstraße 14 ist auch heute noch im Besitz der Familie Braun. Die einzige Tochter von Wilhelm Leitner übersiedelte nach Ödenburg.

Die Familien Stössel und Süss

Die Familie Stössel war die größte und einflussreichste jüdische Familie in Lockenhaus. Maier Isidor Stössel kaufte zunächst (vor 1856) das Haus Hauptstraße 38 und baute an Stelle des alten ein neues. Rechts vom Tor war das Geschäft, links das Lederlager. Maier Stössel hatte zwei Söhne, Max kaufte 1869 das Haus Hauptstraße 13, Wolf übernahm das Geschäft von seinem Vater. Der Vater Maier Stössel kaufte dafür das Haus Hauptstraße 21 von Anton Haubenwallner, baute es um und errichtete um 1880 im Hof ein jüdisches Bethaus mit einer Mikwa. An den jüdischen Hauptfesten kamen hier die Juden der ganzen Gegend zusammen. Nach der Vertreibung der Familie Stössel im März 1938 richtete die NSDAP in diesem Haus ihr Parteilokal ein. Der Besitz fiel an die Gemeinde, das Bethaus wurde ausgeplündert und zerstört. Nach dem Krieg kaufte das ehemalige Wohnhaus der Zuckerbäckermeister Heiling, den Platz des ehemaligen Bethauses erwarb Ludwig Schranz. Heute steht an dieser Stelle das Wohnhaus der Familie Kerschbaum.

Alte Ansichten
Ehemaliges Wohnhaus von Dr. Süss und Fam. Wolf Stössel

Max Stössel betrieb ein Schnittwarengeschäft (Hauptstr.13), nebenbei handelte er auch mit landwirtschaftlichen Geräten, Wolf Stössel betrieb eine Leder-, Mehl und Eisenhandlung (Hauptstr.38). Beide Brüder wurden sehr wohlhabend. Durch den 1. Weltkrieg und die nachfolgende Inflation verlor die Familie des Wolf Stössel ihr Vermögen, musste ihr Haus verkaufen und übersiedelte nach Oberwart.

Das Haus (Hauptstr.38) kaufte der damalige Kreisarzt Dr. Samuel Alexander Süss (Szüsz), ebenfalls Jude, geboren 1864 in Kisjenö, in Wien ausgebildet, und richtete es für sich als Wohnung ein. 1938 musste Dr. Süss zusammen mit seiner gehbehinderten Tochter Irene Lockenhaus verlassen, zunächst lebten sie in Wien, in weiterer Folge wurden sie deportiert. Irene nach Maly Trostinez, ihr Vater nach Theresienstadt. Beide starben 1942. Von Dr. Süss gibt es eine Todesfallanzeige vom Dezember 1942 aus Theresienstadt, die als Todesursache eine Herzschwäche, hervorgerufen durch eine Herzmuskelentartung, angibt. Das ehemalige Wohnhaus der Familie Süss wurde als Reichseigentum verwaltet. Während des 2. Weltkrieges war hier das Grenzzoll-Kommissariat untergebracht. Nach dem Krieg kaufte das Haus Leopoldine Gmeindl, die Witwe des Gendarmerieposten-Kommandanten Gottfried Gmeindl. Die Familie Gmeindl bewohnt das Haus auch heute noch.

Auch das Geschäft (Hauptstr.13) von Max Stössel und seinen Söhnen Samuel Eliezer und Nathan Ignaz ging nach dem 1. Weltkrieg sehr schlecht. Dieser Zweig der Familie Stössel blieb allerdings bis 1938 in Lockenhaus. 1938 wurden die Mitglieder dieser Familie von den Nationalsozialisten vertrieben, das Gebäude Reichseigentum. Nathan Ignaz Stössel und seiner Familie gelang die Ausreise nach England, da Tochter Janka bereits in London lebte. Seine Schwester Jultscha, Schwägerin Berta und deren Sohn Meir wurden nach Polen deportiert und 1942 ermordet. Nach dem Krieg kaufte das Haus der Schneidermeister Konrad, der es an den Bäckermeister Ludwig Schranz weiterverkaufte. Die Familie Schranz betrieb viele Jahre ein SPAR-Geschäft und eine Bäckerei, später kaufte der Rauchfangkehrer-Meister Herbert Baumrock das Haus. Die derzeitige Besitzerin ist Martina Szondi, Lehrerin an der Neuen Mittelschule Lockenhaus.

Aus der Familie des Wolf Stössel, deren Mitglieder viele Jahre in Lockenhaus gelebt hatten, gab es ebenfalls Opfer des Holocaust zu beklagen. Sohn Emanuel und dessen Frau wurden 1941 in Lodz ermordet. Der ältere Sohn Max Mordechai Zwi, der ebenfalls im Geschäft des Vaters in Lockenhaus gearbeitet hatte, wurde mit seiner gesamten Familie (Frau Recha und fünf Kinder) nach Polen deportiert, wo alle, bis auf Sohn Moritz, 1944 in Auschwitz ermordet wurden. Moritz Stössel starb im Frühjahr 1945 in Dachau.

Alte Ansichten
Ehemaliges Wohnhaus der Fam. Hoffmann-Hacker

Die Familie Hoffmann-Hacker

Der jüdische Kaufmann Johann Hoffmann kaufte das Haus Hauptstraße 33 um 1869 vom Tuchmacher Georg Schmall, danach auch das dazugehörige Haus von Schmalls Bruder Josef. Hoffmann betrieb hier ein Gemischtwarengeschäft. Seine Tochter Hermine heiratete Moritz Hacker aus Wien, der das Geschäft weiterführte. Auch dieses Geschäft ging in den Jahren 1925-38 nicht besonders gut. 1938 wurde auch die Familie Hacker aus Lockenhaus vertrieben. Nach dem Krieg kaufte Karl Rahberger das Haus samt Garten und betrieb dort eine Gärtnerei. Das Haus ist auch heute noch im Besitz der Familie Rahberger -Schermanski.

Friedlich neben- und miteinander

Fast ein Jahrhundert lang, von ca. 1850 bis 1938 lebten jüdische und nichtjüdische Einwohner in Lockenhaus friedlich neben- und miteinander. 1892 wohnten rund 30 Juden in der Marktgemeinde. Diese Zahl blieb bis 1938 annähernd gleich. Bei einer Einwohnerzahl von rund 1200 war das ein Anteil von knapp 3%. Trotz dieser eigentlich geringen Zahl trugen die jüdischen Mitbürger von Lockenhaus ihren Teil zur Geschichte und zum wirtschaftlichen Leben der Gemeinde bei. Sie waren in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kaufleute der Marktgemeinde. Auch der Gemeindearzt war Jude. Sie hatten ein reges Geistes- und Kulturleben, so errichtete die Familie Stössel ein Bethaus, in der die jüdischen Bürger ihre Gottesdienste abhielten. Es gab aber keinen jüdischen Friedhof in Lockenhaus. Die Juden begruben ihre Toten auf dem Friedhof in Lackenbach.

Yaacov
Ehemaliges Stössel Haus, Hauptstraße (Nr. 13?)

Mit dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland im März 1938 endete das friedliche Zusammenleben. Die jüdischen Familien wurden zum Verlassen des Ortes gezwungen, was in der Ortsbevölkerung durchaus auch Kritik auslöste. Das Gendarmerie-Kommando sah sich daher am 23. April 1938 zu einer Rechtfertigung veranlasst:

„Die jüdischen Familien sind in den letzten Tagen freiwillig, unter Mitnahme aller Gebrauchsgegenstände von Lockenhaus nach Wien, angeblich zu Verwandten übersiedelt. Die Häuser und Liegenschaften und das ganze Inventar dieser Familien hat die Gemeinde einstweilen übernommen. Diese Familien sind deshalb freiwillig von Lockenhaus abgereist, um zu vermeiden, dass sie gewaltsam zur Abreise gezwungen werden, wie es andernorts geschehen sein soll. Wegen diesen Maßnahmen ist in gewissen Kreisen der Bevölkerung eine Missstimmung wahrzunehmen. Da weder die Parteileitung der NSDAP in Lockenhaus noch die Gemeinde den Auftrag bezüglich der Abreise gegeben hat und dieselben ganz aus freiem Willen Lockenhaus verlassen haben, kann niemand ein Vorwurf gemacht werden…“ (Baumgartner, Fennes, Tschögl u.A., Arisierungen, 2004, 24f.)

Die meisten jüdischen Familien des Burgenlandes gingen nach ihrer oft gewaltsam durchgeführten Ausweisung nach Wien. Von dort gelang vielen die Flucht ins Ausland, vor allem in die USA, Israel, Schweiz, England, Argentinien und andere Staaten. Jene aber, denen die Flucht nicht rechtzeitig gelang, wurden in Konzentrations- und Vernichtungslager in Polen, in der damaligen Tschecheslovakei (heute Tschechien) und in Deutschland deportiert.

Mag. Steiger Denise

Es ist hier anzumerken, dass es natürlich keine "freiwillige Abreise" war. Betroffene aus der Familie berichteten Jahre später ihren Kindern im Exil, dass sie am ersten Tag von Pessach während der Feierlichkeiten zum Pessach-Seder gezwungen worden waren, ihr Haus zu verlassen. Im Jahr 1938 fiel dieser Tag auf den 16. April, es war auch der Karsamstag.


Quellen: Dr. Schermann Aegid, Geschichte von Lockenhaus, Pannonhalma 1936; Häuserchronik von OA Perl, Gemeindearchiv Lockenhaus; Festschrift Lockenhaus, hrsg. von der Marktgemeinde Lockenhaus anlässlich des 500 Jahr-Jubiläums der Markterhebung, 1992; Statistisches Jahrbuch, Burgenland 1982; Internetquellen: Yad Vashem, Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer (yad.vashem.org); Dokumentationsarchiv des österr. Widerstandes, Datenbank der Opfer des Holocaust (doew.at); Holocaust Opferdatenbank (www.holocaust.cz), Plattform zur Stammbaum-Erstellung (www.geni.com)