Wehret den Anfängen

Impulsrede von Mag. Peter Menasse zur Eröffnung der Gedenkfeier am 4. November 2018 beim Mahnmal für die Lockenhauser Opfer der Shoa. Anwesend waren auch drei Nachkommen der Familie Stössel aus Israel.


Sehr geehrter Yaácov Stössel, liebe Organisatorinnen und Organisatoren der Gedenk-Veranstaltung in Lockenhaus, meine Damen und Herren,

es hat lange gedauert, bis den Opfern des Nationalsozialismus in Österreich jener Respekt entgegengebracht wurde, den sie verdienen. Der Respekt und das Gedenken sind jedoch für viele, die den Terror überlebt haben, zu spät gekommen.

Jetzt befinden wir uns hier vor einem Denkmal für die Ermordeten von Lockenhaus, das symbolisch auch für alle anderen Opfer steht, für die Millionen Juden, Roma und Sinti, politisch Andersdenkenden und Menschen mit einer sexuellen Orientierung, die nicht in das Schema des verbrecherischen Systems passte. Und wir können an dieser Stelle auch der rund 60 Millionen Toten gedenken, die der Aggressionskrieg der Deutschen und Österreicher in der eigenen Bevölkerung und in der anderer Staaten gekostet hat.

Wir stehen hier somit vor einem Symbol dafür, dass Österreich, spät, aber doch, mit seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen scheint.
Verneigen wir uns mit Respekt.

Ein solches Denkmal wird aber nicht nur dazu errichtet, der Opfer zu gedenken, sondern um die seit Jahrzehnten bei Gedenkfeiern wiederholten Mantras zu sagen: „Wehret den Anfängen“ und „Nie wieder!“

Meine Damen und Herren, es ist höchst an der Zeit, darüber nachzudenken, was diese Worte denn eigentlich bedeuten sollen. Dazu müssen wir allerdings die Geschichte neu bewerten und die Gegenwart mit geschärften Sinnen betrachten. Es war nicht so, dass im März 1938 ein einzelner Mann den Schalter einer Giftmaschine umgelegt hat, die auf einen Schlag Herzen und Hirne der Menschen mit Hass und Missgunst infiltrierte. Nein, der Beginn dieses Mainstreams, der nahezu alle erfasste, eines Mainstreams, der keine andere Meinung mehr zuließ, dieser Beginn lag weit vor dem eigentlichen grausamen Geschehen.

Dass das Morden der Nationalsozialisten möglich wurde, war Resultat von Entwicklungen, die bereits im 19. Jahrhundert begannen. Damals fing der Nationalismus an zu wuchern, wurde die Hetze gegen Juden, als Symbol für die Fremden, ein Mittel der politischen Propaganda, um an die Macht zu kommen.

Es war damals und es ist heute einfach, die Mehrheit der Menschen von politischen Zielen zu überzeugen, wenn man ihnen einen gemeinsamen Feind bietet – einen Feind, der Ängste auslöst, einen Feind, der alle Emotionen auf sich zieht. Damals die Juden, heute alles, was außerhalb Europas oder gar vielleicht außerhalb unseres Landes lebt.

Es gibt viele Beispiele für diese Form der gewissenlosen Politik. In Österreich war es beispielsweise der Anführer der Deutschnationalen Georg von Schönerer, der mit seinem wütenden Antisemitismus nicht nur zu einem Vorbild für Adolf Hitler wurde, sondern in massiver Weise das politische Klima beeinflusste.

Ein anderer, der die Aggressionen schürte und den Hitler verehrte, ist der bis heute von Vielen geachtete Wiener Bürgermeister Karl Lueger. Auch er benutzte die Angst vor den Fremden, diesfalls vor den Juden, um seine Macht zu sichern.

Diese beiden und viele andere gewissenlose Politiker haben mit Worten den Hass gesät, der 1938 als Ernte des Todes aufging.

Was heißt dann aber „Wehret den Anfängen“ und „Nie wieder“?

Wenn wir die Lehren aus der Geschichte ernst nehmen, können diese Worte doch nur heißen, dass alle Formen des Spaltens, alle Formen des Ausgrenzens von Minderheiten keinen Platz mehr haben dürfen.

Wie aber ist die Situation heute? Wenn wir über Menschen reden wollen, über Kinder, Frauen, Männer, die verfolgt und von Ermordung bedroht sind, wie einst die Minderheiten hierzulande, können wir das nur mehr machen, wenn wir voranstellen: „Ich bin auch gegen einen grenzenlosen Zuzug“ oder „Es können nicht alle zu uns kommen“ - was im Übrigen eine Selbstverständlichkeit ist. Wenn wir das nicht von vornherein sagen, brüllen sie uns an, sind entsetzt, wo wir doch nur ihre Empathie und ihr Mitgefühl ansprechen wollen. Auch in der bürgerlichen Mitte wird plötzlich vor allem darüber diskutiert, wie man Menschen von der Flucht nach Europa abhalten kann.

Mit einem Mal sind so viele Bürgerinnen und Bürger eifrige Techniker der Fluchtabwehr. Lassen wir sie ertrinken, damit alle in den Fluchtländern wissen, was sie erwartet? Richten wir Lager ein in Ländern, die nicht einmal ihre eigene Bevölkerung ernähren können oder wollen, wo Frauen und Kinder ihres Lebens nicht sicher sind? Schließen wir, schießen wir, hauen wir auf sie drauf? Es ist ein neuer Mainstream und es sollte uns grauen.

Meine Damen und Herren, halten wir ein und fangen wir von vorne an. Wenn die sogenannte Flüchtlingsfrage so diskutiert würde, dass wir zuerst einmal über das Leid der Menschen redeten, würden die technischen Lösungen anders ausschauen, als wenn wir diese armen Menschen für Propaganda benützen, wenn wir Angst schüren oder ihr unterliegen.

Bundeskanzler Sebastian Kurz hat in seiner Rede den Nationalfeiertag zu jenem Tag erklärt, an dem „wir als Republik unsere Freiheit erlangt haben“. Die wenigen Juden, Roma und Sinti und anderen Verfolgten des Nationalsozialismus, die den Terror überleben konnten, haben ihre Freiheit jedoch nicht am 26. Oktober 1955, sondern im Mai 1945 erlangt, als das Terrorregime besiegt war. Vielleicht macht diese Sichtweise auf die Geschichte den Unterschied aus zwischen der Position des Kanzlers, seiner Regierung und vieler, die ihm bedingungslos folgen gegenüber unserer Position, die wir hier nur stehen können, weil Mitmenschlichkeit unsere Großeltern und Eltern vor dem Tod bewahrt hat, weil sie flüchten konnten und aufgenommen wurden.

„Nie wieder“ heißt: Keine Hetze gegen Minderheiten und Andersdenkende. Keine Hetze gegen freien Journalismus. Heißt: Ende der geistigen Beschränkung auf die engen Grenzen des eigenen Landes. Heißt: Ende des Nationalismus. Darauf sollte sich die bürgerliche Mitte wieder besinnen, das sollten unsere Kinder in der Schule lernen.

In diesem Sinn, meine Damen und Herren, sage ich es hier und jetzt: „Wehret den Anfängen“ und „Nie wieder“

Peter Menasse