Anna und Johanna
Gertraud Horvath ist die Tochter von Anna Gager. Anna (rechts im Bild) und Johanna Stössel waren enge Freundinnen. Die Nachkommen beider Familien sind in regelmäßigen Kontakt und befreundet. Aus ihrem Wunsch heraus die Erzählungen ihrer Mutter nicht verloren gehen zu lassen, und in Erinnerung an die Gespräche der beiden Freundinnen und an ihre eigenen Begegnungen mit Janka schrieb Gertraud Horvath 2005 diesen Text für den Almanach des Orgelfestivals "Shalom" und stellte ihn auch 2018 im Rahmen des Projekt 1938.2018 Shalom.Nachbar für das Booklet Mensch und Nachbar zur Verfügung.
Anna und Johanna - Anschi und Janka
von Gertraud Horvath
Religion und Leben
Religion und Leben waren eins. Man lebte einfach die Religion und die Religion war das Leben. Das galt für beide Familien, und es war selbstverständlich.
Dominiert wurde das Ortsbild und das ganze Leben von Lockenhaus damals noch mehr als heute von der mächtigen und prächtigen Kirche. Ihr Geläut begleitete und bestimmte den Tagesablauf, den Jahreslauf und den Lebenslauf.
Das Gebetläuten des Morgens signalisierte den Tagesbeginn und war zugleich Weckruf zum Tagwerk des Alltags. - “Ich habe das Morgengebet vergessen oder .... unandächtig verrichtet“, war ein Standard-Satz in der Beichte der kleinen und der größeren Anna und so gut wie aller christlichen Kinder. Natürlich gab es das Morgengebet auch in Jankas Familie, bei den Männern verbunden mit dem Anlegen der Gebetsriemen.
Das Mittagsläuten rief zur Unterbrechung der Arbeit, zum Mittagstisch und zum Tischgebet. In Annas Familie wurde das Vaterunser gebetet, auch um es den Kindern durch die tägliche Wiederholung einzuprägen. Das Segensgebet über das Essen war natürlich auch in den jüdischen Familien üblich.
Das Abendläuten schließlich war für die Kinder das ungeliebte Signal zum Heimgehen. „Bis zum Gebetläuten“, war die übliche Frist für das Ende aller außerhäuslichen Aktivitäten. Mit dem Abendgebet war es auch so eine Sache, so lange man klein war, betete die Mutter mit dem Kind das „Müde bin ich, geh zur Ruh.“ Später dann - in Eigenverantwortung - gab es wieder die Probleme, die Eingang in den Beichtspiegel fanden ... vergessen ... unandächtig ...zu müde ...
Dem Anblick der großen Kirche und dem Geläut ihrer Glocken konnten sich auch die jüdischen Mitbürger nicht entziehen und sie nahmen wohl auch Teil am Lebensrhythmus, wie er vorgegeben war.
Auf der anderen Seite des „Platzes“, wie der Hauptplatz genannt wurde, stand das jüdische Bethaus, der „Judentempel“ ein vergleichsweise bescheidener und schlichter Bau. Niemand konnte damals ahnen, dass selbst dieses einfache Gebäude Schändung und Missbrauch provozieren würde.
Zum Wochenrhythmus gehörte es in beiden Familien, dass unter Anleitung der Mütter das große Putzen ausbrach, in Jankas Familie schon am Freitag, in Annas Familie dann am Samstag. Haus und Hof wurden gekehrt und geschrubbt und zu guter Letzt auch die Kinder nicht verschont. Vielleicht war es in der jüdischen Familie feierlicher und schöner, wenn dann am Freitagabend die Kerzen angezündet und der heilige Sabbat begrüßt wurde. Eines ist aber sicher: die jüdische Hausmutter hatte damit das Ihre getan, sie hatte auch das Essen schon vorbereitet und musste am nächsten Tag nur ein christliches Nachbarkind dazu bringen, das ebenfalls schon hergerichtete Feuer im Ofen zu entfachen, um das Essen fertig zu kochen oder aufzuwärmen. Das ist übrigens eine der Erinnerungen, die in den mittlerweile älter gewordenen Nachbarkindern noch lebendig ist: das Feuermachen und die kleine Belohnung dafür.
Annas Mutter hingegen ging am Sonntag zur Frühmesse, um dann genügend Zeit fürs Kochen zu haben. Sonntags war die Mahlzeit dazu noch ein bisschen aufwändiger. Und vor dem Nachmittag war von Ruhe keine Rede.
Das mit der Sabbatruhe war übrigens gar nicht so ungeschickt. Die jüdischen Geschäfte waren zwar samstags geschlossen, doch sonntags konnten die Leute aus den umliegenden Dörfern nach dem Besuch des Gottesdienstes gleich ihre Einkäufe erledigen, denn da waren die Judengeschäfte offen.
Anna und Janka und ihre Freundin Frieda konnten auch kleine Ausflüge, meist zu Fuß, später auch mit Fahrrädern unternehmen. Am Samstag hätte Janka passen müssen, man nahm es mit der Sabbatruhe sehr genau.
Für die christlichen Familien hieß das Sonntags- Gebot, keine „knechtliche“ Arbeit zu verrichten. Und es konnte durchaus eine Herausforderung darstellen, bei einem aufziehenden Unwetter das Heu auf der Wiese und das Getreide auf den Feldern zu lassen und auf Gottes Hilfe zu vertrauen.
Auch bei den Festen im Jahreskreis gab es einige Parallelen. Wieder waren es die äußeren Zeichen, die wahrgenommen wurden. Wenn das ganz große Putzen und Reinigen begann, stand in den jüdischen Familien Pessach ins Haus. Es galt, auch die letzten Reste des alten Sauerteigs zu beseitigen, mit all den praktischen, traditionellen und rituellen Prozeduren, die damit verbunden waren. Natürlich gab es auch in den christlichen Familien die jährlichen Groß-Reinigungs- Aktionen, aber das war eben der Frühjahrsputz, und die richtige Zeit dafür war vor Ostern. Eine unausgesprochene Fortführung der alten jüdischen Tradition? Aber darüber machten sich unsere zwei Mädchen keine Gedanken.
Der Osterschinken hingegen, der war für Janka natürlich tabu, er war nicht koscher. Ein Wort, das jeder verstand und dessen Inhalt man respektierte. Freilich versuchten die Buben in der Schule Jankas Brüder zu verlocken und ihnen Verbotenes anzubieten, ein Schmalzbrot oder ähnliche Köstlichkeiten. Aber das war nur ein Spiel, ein Necken, dessen Ausgang von vornherein klar war. Die Stössels hielten sich streng an die jüdische Speiseordnung.
Anna entsinnt sich noch genau, dass Janka manchmal Matzes zum Kosten mitbrachte, ja auch einmal ihre Jause mit ihr teilte, aber umgekehrt war so etwas nicht möglich.
An den hohen Feiertagen schlichen die christlichen Kinder manchmal zum „Tempel“, um zu lauschen. „Verstanden haben wir nichts“, meint Anna. Aber auch in der eigenen Kirche verstand man nicht, was der Priester betete und der Chor in festlicher Weise sang. Es gab also hier wie dort eine Art, mit Gott zu reden, jenseits der Sprache des Alltags und des Alltäglichen.
Wenn Anna ihre Gebete mit dem „Amen“ beschloss, in der sonntäglichen Messe das Hosanna hörte, Gott Sabaoth gepriesen wurde und sie in das österliche Alleluja einstimmte, war das eben Teil dieser Tradition. Sie wusste nicht, dass dies auch Teil von Jankas religiöser Tradition und Sprache war und ist.
Selbst die Statue des Moses auf der Kanzel der Pfarrkirche, der die Gesetzestafeln hält, stellte für sie einen irgendwie christlichen Propheten dar, der mit Janka gar nichts zu tun hatte. Dass auf diesen Steintafeln dieselben Zehn Gebote stehen, die beiden Religionen grundlegend sind, wurde nicht wirklich deutlich gemacht.
Dass heute das größte und wichtigste Gebot, die Grundlage unseres religiösen Lebens, in der Orgel der katholischen Kirche – von Jankas Hand geschrieben – aufbewahrt wird, ist der krönende Abschluss dieser Geschichte.
Möge sie zugleich der Beginn einer neuen sein und Ansporn, eine ähnlich große und gläubige Antwort auf diese schöne Geste zu finden.
Gertraud Horvath