Statements von Ruth Patzelt und Hans Raimund zur Buchausstellung am EDJC 2022
Ruth Patzelt:
Wie es dazu kam, Antworten zu suchen.
„Was für ein schöner Sonntag“, Jorge Semprun
„Shoah“, Claude Lanzmann
„Die große Reise“, Jorge Semprun
„Recht, nicht Rache“, Simon Wiesenthal
„Ist das ein Mensch?“, Primo Levi
Im Frühjahr 2018 fiel in einem Gespräch mit André Heller der - von ihm sehr eindringlich gerufene - Satz: „Ihr müssts reden mit den Leuten! Mit allen!“ Gemeint war, auch mit denen an den Stammtischen, mit den Nazis in ihren Kellern, mit den rechten Provinzpolitikern und Ihren WählerInnen auf den Wandertagen und… ich dachte an die Kinder und Jugendlichen in meinem Heimatdorf. Denen niemand erzählt, was sich rund 80 Jahre zuvor in Europa, in Österreich, im Burgenland, in Lockenhaus ereignet hat, und die heute, so wie ich viele Jahre zuvor, keine Fragen dazu haben.
Ich initiierte im selben Jahr die Gedenkwoche 1938.2018 Shalom.Nachbar und seither recherchiere ich über die jüdische Geschichte von Lockenhaus, um sie und die Namen der Lockenhauser Opfer der Shoa nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Meine Ergebnisse veröffentliche ich laufend auf der Homepage shalom-lockenhaus.at. Auch die Idee zu dieser Buchausstellung meiner Recherche-Bücher hatte ich bereits im Jahr 2018. Ich war damals überwältigt von den Informationen, die ich über die Ereignisse in meinem Heimatort in den Jahren um 1938 erfahren habe.
Das Jüdische Lockenhaus ist vielen DorfbewohnerInnen und BesucherInnen unbekannt. Es ist nicht existent. Nur das Mahnmal für die Lockenhauser Opfer der Shoa, auf Initiative der Familie Horvath im Jahr 2008 errichtet und heute leider hinter einer hohen Hecke versteckt, erinnert an die verschwiegene jüdische Geschichte von Lockenhaus. Niemand stellt Fragen, auf die bald niemand mehr Antworten geben kann.
In Archiven und Büchern, in Katalogen und Deportationslisten sowie im Internet und bei den wenigen noch lebenden Zeitzeugen habe ich einige Antworten gefunden: Mindestens 25 in Lockenhaus geborene Menschen jüdischen Glaubens wurden in der Shoa ermordet. Mindestens 16 jüdische Nachbarn wurden im Jahr 1938 in Lockenhaus gedemütigt, vertrieben und in sogenannten wilden Arisierungen enteignet. Über 100 Jahre lang gab es in Lockenhaus eine jüdische Gemeinschaft, gelebte jüdische Kultur. Ein Rabbi lebte zeitweise im Dorf, es gab eine Synagoge und ein friedliches Zusammenleben der Menschen verschiedener Religionszugehörigkeiten. „Jiddischkeit“ war ein Teil von Lockenhaus.
Ich habe mir in den vergangenen fünf Jahren (erst fünf! aber sehr intensive Jahre) viel Wissen über das jüdische Lockenhaus erlesen – vor allem während langer nächtlicher Internetrecherchen und in den emotional fordernden Tiefen der Archive des Landes Burgenland und des Österreichischen Staatsarchivs in Wien. Und in Büchern! Meine eigene kleine Bibliothek, die im Laufe der Jahre stetig gewachsen ist und die mir zur Recherche zur Verfügung steht, ist heute Teil dieser Ausstellung „Das Buch als Ort der Erinnerung“.
Ich lade ein, in den Büchern zu blättern und zu lesen und dabei Unerhörtes und Erstaunliches über das jüdische Erbe und das bittere Ende der jüdischen Geschichte des Burgenlandes zu erfahren und ich möchte ermutigen dieses Wissen auch weiterzugeben. Wertvolle Unterstützung bei meiner Arbeit zur Erinnerung an die jüdische Geschichte von Lockenhaus erhalte ich immer wieder durch das Lesen in Büchern aus Hans Raimunds umfangreicher Bibliothek, sowie auch die Gespräche mit ihm selbst eine wichtige Bereicherung für mich und meine Erinnerungsarbeit sind. (Ruth Patzelt, Hochstrass im August 2022)
Hans Raimund:
Seit den Anfängen meiner intellektuellen, also geistigen, vom Verstand bestimmten Existenz, d.h. seit ich meine Umwelt bewusst und kritisch wahrnehme, selber denke, lese, schreibe…, ist mein Leben von einem auffällig großen Interesse und einer nicht weniger auffallend ausgeprägten Empathie für alles JÜDISCHE bestimmt: für die jüdische Religion, die kulturelle Leistung der Juden auf den Gebieten Literatur, Musik, Malerei, Wissenschaft, für das Schicksal der Juden im 20. Jahrhundert, auch und vor allem für ihre Weltsicht heute nach der Katastrophe des Nationalsozialismus - wieder und von neuem als gefährdete Minderheit…
WARUM?
Aufgewachsen bin ich in einer Familie des apert antisemitischen Wiener Kleinbürgertums. Erzogen und gebildet wurde ich in einer Eliteschule in Wien, in der im Fach Geschichte die Darstellung der Geschehnisse im 20 Jahrhundert konsequent vermieden wurde, wo aber die zumeist aus Adels – und Akademikerfamilien stammenden Schüler miteinander im Erzählen antisemitischer Witze wetteiferten. Den JUDEN als Person gab es im Milieu meiner Kindheit und Jugend nicht. Keiner in meiner Umwelt kannte einen Juden persönlich. Ein Klassenkamerad kam aus Ecuador, wohin seine Eltern vor seiner Geburt „ausgewandert“ waren. Er war evangelisch getauft… Also…
Das änderte sich – für mich wenigstens – nach dem Besuch mit der ganzen Schulklasse von einer der ersten dokumentarischen Ausstellungen über Auschwitz im Messepalast. Das war im Jahr 1962. Die Information, mit der ich dort konfrontiert wurde und die mit Verzögerung, aber intensiv in mir zu wirken begann, hatte zur Folge, dass ich es – anfänglich instinktiv – sehr bald als eine moralische PFLICHT erkannte, als Nicht-Jude, als Nachkomme von Tätern, mich mit der Schoah und dem Judentum intensiv zu befassen, mich ohne Schonung für mich und meine Umwelt damit auseinanderzusetzen.
Das war mir zuerst nur über den Weg des Lesens, der Literatur möglich. Das BUCH war damals für mich weniger der Ort der Erinnerung als vielmehr der Ort der notwendigen Information: derart „erlas“ ich mir aber ein Wissen über das Judentum, über die Schoah, über das JudeSein heute, das im Laufe der Zeit dann allerdings doch bedeutsam ergänzt und bereichert wurde durch persönliche Kontakte mit jüdischen Menschen:
Zuerst, noch vor der Matura, mit dem Zeitzeugen RUDOLF GELBARD, ein Kontakt, den mir paradoxerweise mein Vater verschaffte, der mit Gelbard in geschäftlicher Verbindung war. Mit ihm, der für mich lange Zeit zur wichtigsten und verlässlichsten Informationsquelle über das Judentum wurde, blieb ich bis zu seinem Tod eng, zeitweise freundschaftlich verbunden – ich bewunderte sein autodidaktisch erworbenes, immenses historisches Wissen, seine selbstbewusst zur Schau getragene Jüdischkeit.
Die zweite maßgebliche Begegnung mit einem Juden war die mit dem Wiener Literaten HERMANN HAKEL: neben Hans Weigel einer der wichtigsten Anreger und Förderer der jungen österreichischen Literatur nach 1945 und lange Jahre der Herausgeber der traditionsreichen Zeitschrift LYNKEUS, für die ich dann ein paar Jahre regelmäßig, oft auf Anregung von Hakel selbst, Beiträge liefern durfte; vor allem aber war es mir möglich und erlaubt, jahrelang den ebenso luziden wie unterhaltsamen Monologen Hakels beizuwohnen, ihn mit Hingabe bewundernd und immer wieder überraschend Neues über seine Welt, sein Verhältnis zum Judentum und die Welt „von gestern“ erfahrend.
Die dritte wichtige Begegnung war die mit dem Philosophen, Schriftsteller und Atomgegner GÜNTHER ANDERS, zu dessen 80.Geburtstag ich als Redakteur der Literaturzeitschrift dasPULT eine Nummer über ihn gestalten durfte. (Ich stellte übrigens im selben Heft seinem Porträt das Porträt von Hermann Hakel gegenüber – was beiden überhaupt nicht recht war!) ANDERS wohnte damals allein in einem Eckhaus in der Lackierergasse, wo auch ich ein paar Häuser weiter wohnte. Ich besuchte ihn regelmäßig, durfte ihm helfen bei Problemen im Alltag mit Einkäufen, Briefeschreiben etc. – und ich hatte die einmalige Gelegenheit, ihm bei seinem durchaus didaktischen Erzählen über sein Leben, sein Schreiben, seine Weltsicht – gebannt - zuzuhören!…Der persönliche Kontakt mit diesem vornehmen, hochgebildeten alten Mann ist für mich eine der kostbarsten literarischen UND menschlichen Erinnerungen.
Alles in allem – hoffentlich! - genügend ERLEBTES und GELEBTES, um die, für manche wohl fragwürdige, ja sogar vielleicht verdächtige SAMMLUNG von Materialien (Bücher, Platten, CDs etc,) zum Judentum zu rechtfertigen und die Frage nach dem WARUM ? zu beantworten…. (Hans Raimund, Hochstrass im August 2022)
Der Europäische Tag der Jüdischen Kultur im Burgenland wird von der Burgenländischen Forschungsgesellschaft koordiniert und organisiert.